Viele Unternehmen haben ein Angebot an familienbewussten Maßnahmen entwickelt. Aber können alle Beschäftigten diese Maßnahmen tatsächlich nutzen? Passen sie zu den verschie-denen Lebenssituationen und werden sie selbstverständlich in Anspruch genommen? Unver-bindliche Angebote werden dem veränderten Selbstverständnis der Beschäftigten und ihrem Wunsch nach Selbstorganisation – auch in puncto Vereinbarkeit – nicht mehr gerecht. Und sie fordern immer wieder die Frage nach der „Gerechtigkeit“ im individuellen Fall heraus. Gleichzeitig ist eine familienbewusste Unternehmenskultur entscheidend für die Attraktivität als Arbeitgeber. Viele Unternehmen haben erkannt, dass verbindlich verankerte Vereinbarkeitsmaß-nahmen ein starkes Fundament für das Vertrauen und die Loyalität ihrer Beschäftigten bilden.
Eine Verankerung kann beispielsweise über eine freiwillige Betriebsvereinbarung zur Verein-barkeit von Familie und Beruf erfolgen. Diese umfassen inhaltlich häufig familienunterstützen-de Arbeitszeitregelungen, wie etwa die Umwandlung von Gehalt in zusätzliche Urlaubstage, Kinder- beziehungsweise Pflegebonustage oder besondere Möglichkeiten zur Flexibilisierung des Arbeitsorts – etwa, um von einer anderen Stadt aus zu arbeiten und so die Pflege der Eltern zu erleichtern. Auch Zuschüsse zur Kinderbetreuung sind möglich.
Betriebsvereinbarungen bilden somit eine starke Grundlage für eine familienbewusste Unter-nehmenskultur. Ein konsequenter weiterer Schritt hin zu einer zukunftssicheren und nachhalti-gen Personalpolitik sind Tarifverträge, die von den Tarifvertragsparteien (also Einzelunterneh-men beziehungsweise Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften) geschlossenen werden:
- Ein Beispiel dafür ist der „Tarifvertrag Familie“1, den der IT-Dienstleister GISA im Jahr 2022 mit der Gewerkschaft ver.di abgeschlossen hat. Dabei wurden die bestehenden Betriebsvereinbarungen inhaltlich unverändert in den neuen Tarifvertrag überführt – und damit ohne den Vorbehalt der Freiwilligkeit verbindlich verankert. Neben familien-freundlich gestalteten Arbeitszeiten und Kinderbetreuungszuschüssen zählen dazu vier bezahlte Freistellungen für die Betreuung von Kindern oder pflegebedürftigen Angehö-rigen sowie bis zu 18 selbstfinanzierte Ausgleichstage, die zusätzlich zu den 30 Ur-laubstagen genommen werden können.
- Im September 2024 wurde der bestehende Zukunftstarifvertrag2 zwischen der Bank ING Deutschland und ver.di um die Einführung der „Familien-Startzeit“ erweitert. Diese neue Regelung gewährt dem zweiten Elternteil bei Geburt, Adoption oder Übernahme der Pflegschaft eines Kindes vier Wochen bezahlte Freistellung und reagiert damit auf die Bedürfnisse junger Familien nach mehr Zeit für den gemeinsamen Start ins Fami-lienleben.
Auch wenn es kein Tarifvertrag sein kann oder soll: eine institutionalisierte Form von Verein-barkeit schafft Sicherheit für alle Beteiligten. Auch ein erster Schritt zu mehr Verbindlichkeit zahlt sich aus: motiviertere und loyale Beschäftigte, eine gesteigerte Arbeitgeberattraktivität und mehr Effizienz in den Personalprozessen, da nicht jede Entscheidung grundsätzlich neu geprüft werden muss, sondern in einem anerkannten Rahmen erfolgen kann.
Was können Unternehmen tun, um Vereinbarkeit verbindlich zu gestalten?
- Machen Sie das Thema Vereinbarkeit zum regelmäßigen Bestandteil von Mitarbeitenden-gesprächen. So erfahren Sie unmittelbar von den Beschäftigten selbst, ob und wie sich Ansichten und Bedürfnisse verändern. Zugleich erleben die Beschäftigten, dass ihre Ver-einbarkeitsbedürfnisse ernst genommen werden.
- Wenn Sie Vereinbarkeitsmaßnahmen anbieten, fragen Sie Ihre Beschäftigten, wie diese Maßnahmen wirken, was besonders hilfreich ist und welche Faktoren sie vielleicht noch von der Nutzung abhalten.
- Unternehmen mit einem Betriebsrat sollten diese Chance nutzen und gefundene Lösungen in Form einer freiwilligen Betriebsvereinbarung verankern. Darin können die Nutzungsbedingungen eindeutig geklärt werden, was Verbindlichkeit und Sicherheit schafft. Das hilft nicht zuletzt auch Führungskräften in der Kommunikation und Aushandlung mit den Beschäftigten.
- In Unternehmen ohne Betriebsrat ist eine Betriebsvereinbarung nach dem Betriebsverfas-sungsgesetz nicht möglich. Dennoch ist es sinnvoll, die Vereinbarkeitsangebote und Nut-zungsregeln zu verschriftlichen und für alle Beschäftigten gut auffindbar zu hinterlegen. Auch eine Veröffentlichung von neuen Möglichkeiten in der internen Kommunikation, zum Beispiel im Intranet oder Newsletter, schafft Verbindlichkeit und Vertrauen.
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1 https://it-mitteldeutschland.de/gisa-und-ver-di-unterzeichnen-tarifvertrag-familie/
2 https://wir-fuer-tarif.de/mehr-gesundheitsbudget-und-neue-familien-startzeit/